Über das Zugreisen und andere Gedanken
- lea singt mal
- 19. Jan. 2020
- 5 Min. Lesezeit
Ich reise gerne mit dem Zug. Ich weiß einigen ist dieser Transportweg zu langweilig, zu stressig und vor allem uns Deutschen meist zu unzuverlässig. Aber ich liebe es. Die Vorstellung, fünf Stunden mit einem Zug von hier nach dort zu fahren ist für mich ein Traum. Fünf Stunden zum Lesen, Filme schauen, Musik hören, aus dem Fenster starren, träumen und dösen. Einerseits ist es wundervoll, das alles zu tun, aber andererseits ist es auch erschreckend, dass ich dafür das Zugfahren brauche. Unsere Gesellschaft ist so schnelllebig (ein Wort mit drei L) geworden und davon bleibe ich natürlich auch nicht verschont. Wann nehme ich mir noch mal Zeit eine Zeitschrift zu lesen oder einen Film zu sehen, ohne dabei mein Mittag zu essen, die Wäsche aufzuhängen, nebenbei noch abzuwaschen oder zu zeichnen. Wann erlaube ich mir im Alltag, die Gedanken für eine halbe Stunde oder länger schweifen zu lassen. Einfach mal abzuschalten und nicht geistige To-Do-Listen schreibe, während vor meinem inneren Auge die nächste Woche geplant wird. So gerne bin ich kreativ, aber dafür benötige ich Zeit, die ich mir leider viel zu selten nehme.
Es gibt Menschen, die nehmen Arbeit, Papierkram oder Karteikarten mit in Züge oder auch ins Flugzeug, um die Zeit dort „sinnvoll“ zu nutzen. Ich gehörte auch mal dazu und wie habe ich mich abgequält! So saß ich also im letzten Winter in der besten Zugverbindung, die man erwischen kann, dem Augsburg-Berlin-ICE, am Fenster. Es bedeutete fünf Stunden reine Zugfahrt ohne Umstiege mit noch dazu einer Stunde Verspätung und vor mir lag mein dicker Ordner mit den soziologischen Studien über Twitter in der Politik, die ich für meine Präsentationsprüfung im Abitur lesen wollte – Die Quellen wahren übrigens unabhängig von der Zugfahrt reine Zeitverschwendung. Ein großes Gelaber um nichts, aber darum soll es hier nicht gehen – Obwohl ich also nur aus dem Fenster schauen wollte, quälte ich mich Bandwurmsatz für Bandwurmsatz durch die Texte. Es war furchtbar mühsam und verständlicherweise sehr langweilig. So macht Zugfahren keinen Spaß mehr, so ist eine Verspätung ein Höllentripp.
Ich habe jetzt beschlossen, das Zugfahren zu genießen. Wie wundervoll kann es sein, wenn der Zug mitten in der Pampa stehen bleibt und sich 30 Minuten nicht vom Fleck bewegt, bis schließlich die Meldung kommt, man müsse umdrehen, da das vorwärtsfahren leider nicht mehr möglich sei. Anstatt sich zu ärgern, kann man dann noch eine Folge „Friends“ schauen. Und wie herrlich ist es in einem überlasteten Zug ein leeres Abteil zu finden, in das später eine Cellistin und eine ältere Dame einsteigen, mit denen man sich dann eine geschlagene Stunde über die Dachwohnung der Cellistin unterhält. Als ich mal ungeplant umsteigen musste, weil ein anderer Zug eine Störung hatte traf ich einen Jungen aus Hannover, der lustigerweise ins selbe kleine Dorf fuhr wie ich und der nach dem Abitur eine Ausbildung als Parfümeur anfangen wollte, da auch sein Einziges Hobby „Parfüm“ war. Das faszinierte mich so sehr, dass wir die ganze einstündige Fahrt darüber sprachen.
Mittlerweile suche ich mir Zugreisen richtig als Auszeiten. Ich bin einmal hier in London nach Richmond gefahren, ein eher Außerhalb liegender Stadtteil. Richmond ist eine sehr teure Gegend und hat wunderschöne Park- und Waldlandschaften. Die Themse fließt durch diese Landschaften und zum rauskommen aus der Großstadt ist das mein absoluter Lieblingsort. An dem Besagten Tag fuhr ich allerdings nicht wegen der Parks nach Richmond, sondern, weil ich endlich mein Buch fertiglesen wollte. Eine Stunde mit der Overground hin und eine Stunde wieder zurück. Irrsinnig viel Zeit zum Lesen. Letztendlich trank ich in Richmond nur einen Cappuccino und aß ein völlig überteuertes Spiegelei, bevor ich wieder zum Bahnhof ging.
Ich bin in der Lernphase für meine Abiturprüfungen fast jeden Freitag am Invalidenplatz auf den Fridays-for-Future-„Streiks“ gewesen. Ich mache mir fast täglich Gedanken um das Klima und mir ist klar, dass Flüge einen großen Beitrag zum Klimawandel beitragen. Mittlerweile habe ich für mich beschlossen, nicht mehr zu fliegen, wenn es nicht notwendig ist, bedeutet, wenn es eine Zugverbindung gibt, nehme ich lieber diese. Auch wenn das dann vielleicht drei oder fünf Stunden länger dauert, sehe ich das nicht als verlorene Zeit. Verloren ist die Zeit viel eher, wenn ich Stundenlang anstehe, um mein Handgepäck kontrollieren zu lassen oder dreimal packen muss, damit mein Gepäck die Gewichtsgrenze nicht überschreitet oder ich mir einen steifen Nacken hole bei dem Versuch in den viel zu engen Flugzeugreihen einigermaßen angenehm zu schlafen.
Außerdem begegne ich den interessantesten Menschen im Zug und anders als im Flugzeug unterhalte ich mich auch mal mit ein paar von ihnen. Als ich ein paar Tage vor Weihnachten von London nach Bayern fuhr hatte ich einen zweistündigen Aufenthalt in Brüssel. Der Tag war wunderschön sonnig und ich lief bis zum Ende des Bahnsteigs, reckte meine Nase in die warme Wintersonne und tanzte zu der Musik aus meinen Kopfhörern. Etwa eine halbe Stunde, bevor mein ICE nach Frankfurt abfuhr begann ich mit Ella zu telefonieren. Wir sprachen über dies und jenes, bis wir schließlich auf die Mozartkugeln kamen, die noch bei mir in London lagen. Mittlerweile war ich in den Zug eingestiegen und saß am Tisch in einem Großraumwaggon. Neben mir saß ein junger Mann, der einen Blog über Klimaschutz und Reisen auf seinem Laptop tippte. Als ich Ella nun also erzählte, ich wäre nicht der größte Fan von Marzipan, und demnach auch nicht von den Mozartkugeln, wandte er sich mir zu und meinte, er würde sie gerne nehmen. Ich entschuldigte mich und erklärte, ich hätte sie nicht dabei, woraufhin er ein gespielt trauriges Gesicht machte, „Schade“ sagte und sich wieder seinem Computer zuwandte. Es war nur ein kurzer Moment, aber irgendwie freut mich so etwas immer. Es schafft Gemeinschaft und letztendlich schliefen wir beide eine Stunde mit dem Kopf auf dem Tisch, während die Sonne durchs Fenster fiel.
Musik ist auch ein großer Part meiner Zugreisen und deswegen möchte ich diesen Eintrag mit einem Zitat aus dem Lied Schlagschatten von Annenmaykatereit beenden. Vielleicht denkt ihr ja mal daran, wenn ihr in der S-Bahn aus dem Fenster schaut oder der ICE Verspätung hat, weshalb ihr noch den wunderschönen Sonnenuntergang über den brandenburgischen Feldern sehen könnt. Vielleicht hört ihr es euch dann ja auch einmal an?
Schlagschatten fallen auf mein Gesicht Ich sitz' im Zug und schreibe Ich seh' Bahnhofshallen im Sonnenlicht Und die, die darauf warten, zuzusteigen Ich glaube, ich habe schon wirklich sehr lange Nur aus dem Fenster geschaut Besonders am Abend hat jeder Gedanke Den ich habe, die Farbe Blau Die Tage zählen und untertauchen Sind kein Neuanfang, nur ein Ende Warum laufen die Tränen aus meinen Augen Obwohl ich an niemanden denke?
Schlagschatten fallen, die Sonne ist rot Ich glaub' das kleine Glück ist groß Schlagschatten fallen, die Sonne ist rot Ich glaub' das kleine Glück ist groß
Die Landschaft ist weit, zieht an mir vorbei Ich werde ganz langsam müde Vielleicht schlaf' ich ein und träum' von der Zeit Die mir noch bliebe Ich will Karten zählen und eine rauchen und Anfangen mein Blatt zu wenden Warum laufen die Tränen aus meinen Augen Obwohl ich an niemanden denke? Warum laufen die Tränen aus meinen Augen Obwohl ich an niemanden denke?
Schlagschatten fallen, die Sonne ist rot Ich glaub' das kleine Glück ist groß Schlagschatten fallen, die Sonne scheint rot Ich glaub' das kleine Glück ist groß
Schlagschatten fallen
(https://www.songtexte.com/songtext/annenmaykantereit/schlagschatten-g3b9b9474.html)
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