Philosophie zum Dienstag
- lea singt mal
- 6. Dez. 2022
- 3 Min. Lesezeit
Es hatte nachts geschneit in Aachen und auch den ganzen Montag flogen kleine und große Flocken vom Himmel. Es war kalt und ungemütlich und doch irgendwie heller als normalerweise, etwas weniger grau, etwas weniger schnell. Die Enten im Westpark hatten die Federn aufgeplustert und standen auf nur einem Bein. Alle ein stück dichter beieinander als sonst.
Doch auch wenn der Schnee liegen blieb, heute — einen Tag später — ist er fast weggetaut. Die Schneemänner sind geschrumpft und neigen die Köpfe. Aus dem Bahnfenster auf meinem Weg nach Düsseldorf sind Wiesen zu sehen, die mal mehr, mal weniger weiß sind. Die Pferde darauf sehen aus wie festgefrorene Schleich-Figuren, so still stehen sie. Zwischen den Wiesen und Feldern sind immer wieder leuchtend bunte Laubwälder, wo noch einige sture Bäume an den Herbst erinnern, der langsam den grauen winterlich kahlen Baumkronen platz macht.
Mitten in so einem Wald bleiben wir stehen, wegen einer Signalstörung oder ähnlichem. Mir ist es relativ egal. Ich schaue aus dem Fenster und lasse meine Gedanken schweifen.
Am Fenster läuft langsam ein Wassertropfen herab. Er ist wunderschön. Leicht blau grau fängt er zusätzlich noch die Farben des Laubwaldes ein. Langsam läuft er herab, trifft auf einen weiteren Tropfen am Fenster, nimmt ihn auf und wird kurz schneller. Dann wird er wieder langsamer und läuft weiter seinen unbestimmten Weg. Unten hat das Fenster leichte Schrammen und Kratzer. Hier verliert der Tropfen winzig kleine Teile seiner selbst und hinterlässt so eine kaum sehbare Spur, während er die größeren Tropfen mitnimmt.
„Wie komisch“ denke ich mir „dieser kleine Tropfen hat innerhalb von nicht mal einer Minute auf unglaublich philosophische Art und Weise das Leben dargestellt. Ganz am Anfang gab es ganz viel aufzunehmen um ein großer Wassertropfen zu werden. Und so nehmen wir auch Reize, Weisheiten, Menschen, Gewohnheiten als Kinder auf und an. Das alles ist von Anfang an da. All das was man in einem Leben aufnimmt könnte man jedoch gar nicht halten. Je älter man wird, lernt man also loszulassen. In winzigen Schritten, so wie auch der Wassertropfen es tut. Man lässt Dinge zurück und es entsteht eine Spur. Denn auch die Dinge, die wir loslassen hängen zusammen, dadurch, dass sie einen Teil unseres Lebens waren. Einer unserer ganz persönlichen roten Fäden. Wir schrumpfen dadurch nicht. Wir minimieren nur Gewicht und Arbeit. Wir lernen was wichtig ist, lernen welche Erinnerung wir bewahren möchten und welche vielleicht nicht so wichtig waren und in unseren kleinen Köpfen keinen Platz mehr haben.“
Was für große Gedanken das seien, überlege ich während ich das hier aufschreibe. Ich bin grade 21, was weiß ich schon von der Welt und vom Leben. Und doch ist 21 nicht genau das Alter, wo man angeblich erwachsen ist? Ich soll doch angeblich wissen, was ich vom Leben will, was ich in Zukunft wollen werde. Ich kenne Menschen Ende 20/Anfang 30, die das nicht wissen. Und auch ich weiß es nicht.
Aber dieser Wassertropfen hat mir etwas bewusst gemacht, was wir alle instinktiv in diesem Alter— unseren aufregenden Zwanzigern — machen:
Ganz viel. Ganz viel aufnehmen, ganz viel ausprobieren, ganz viel reden, ganz viel fühlen und ganz viel erleben. Was danach kommt kann ich noch nicht wissen, ich hab es ja noch nicht erlebt. Aber ich weiß, dass ich schon jetzt anfange einige Dinge immer wieder loszulassen. Winzige winzige Wassertropfen. Ich schrumpfe dadurch nicht ich werde nur ein wenig leichter, leben wird leichter, weniger Ernst auf eine Art und Weise. Jede Verhaltensweise, jeder Mensch, jede Weisheit, die ich glaube zu wissen, hat eine Zeit in meinem Leben. Manche bleiben für immer, manche begleiten mich nur kurz.
Wer weiß, vielleicht lese ich eines Tages diesen Text und denke mir: „Mensch Lea, was hast du da wieder für einen Stuss in deiner Jugendlichen Ernsthaftigkeit zusammengeschrieben, in der alles so wichtig erschien und du Ständig nach einem großen Sinn suchtest.“ Vielleicht, vielleicht nicht. Jetzt ist es mir grade vor die Nase gekommen, wie einer der vielen kleineren Wassertropfen, die dem wunderschönem Großen am Fenster begegneten, während ich ihm bei seiner kleinen Reise zusah.
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