Oma I vs. Oma II
- lea singt mal
- 8. Aug. 2021
- 4 Min. Lesezeit
Der IC 22009 nach Emden über Oldenburg steht in Hannover am Hauptbahnhof. Ich sitze in Wagen 3 Platz 81, untere Ebene. Wegen Corona, und weil ich nicht so lange stehen möchte, habe ich diesen Platz reserviert.
Ich sitze und warte, dass wir losfahren, da steigt Oma I ein. Oma I trägt blauen Lidschatten und eine knallrote Brille auf der Nasenspitze, über dessen Gläser hinweg sie mich kritisch beäugt. Ich denke es liegt daran, dass ich mein Croissant esse und dafür immer wieder die Maske runterziehen muss. Darum setze ich sie schnell auf, um zu warten bis sie sitzt. Doch das ist nicht der Grund für ihre Missbilligung. Sie schaut auf ihr Ticket und hoch zu den Platznummern, wieder auf ihr Ticket und dann auf mich. "Einundachtzig, zweiundachtzig, sechsundachtzig und siebenundachtzig" sagt sie zu niemandem bestimmten. Ihr Mann—ich nenne ihn mal Herbert, denn er sieht aus wie ein Herbert—räumt Gepäck ein und lässt sich dabei nicht stören. Sie wiederholt konsterniert die Nummern, die auf ihrem Zettel stehen: "Einundachtzig, zweiundachtzig, sechsundachtzig und siebenundachtzig"
Oma II kommt den Gang entlang. In verblüffend zügigem Tempo und mit sicherem Griff schiebt sie ihren roten Rollkoffer. Ihr Mann—er sieht aus wie ein Günter—zuckelt hinterher. Kurz vor Oma I bleiben sie stehen und Oma II verkündet: "Sechsundachtzig und siebenundachtzig“.
Oma I ist noch immer konsterniert. Sie hat doch vier Plätze am Tisch gebucht und wegen der Abstandsregelungen müsste sie doch beide Tische haben, weil immer ein Platz frei bleiben muss. Nun sitze aber ich schon an dem einen Tisch und Oma II erklärt den anderen Tisch als ihren Gebuchten. Oma I erinnert mich ein bisschen an meine erste Französischlehrerin, die hatte auch so eine Brille. Ihre Haare allerdings waren rabenschwarz, glatt wie mit dem Bügeleisen gebügelt und zu einem modischen Bob geschnitten. Oma I trägt Kurzhaar und ihre Haare sind weiß. Jetzt beginnt sie wieder zu reden und plötzlich erinnert sie mich gar nicht mehr an Frau Puxbaumer, sondern an meine eigene Oma. Mit Herbert berät sie (oder vielmehr sie berät Herbert): „Aber wir haben doch die vier Plätze gebucht. Wir haben doch… Einundachtzig, zweiundachtzig, sechsundachtzig, siebenundachtzig…Wie kann das sein?“ Sie ist vollkommen fassungslos. Herbert schaut sich die Situation genau an und zuckt ratlos die Schultern.
Oma II beharrt auf ihre „Sechsundachtzig und siebenundachtzig, hier auf meinem Zettel steht’s genau.“ Mir ist das Drama, das hier in Wagen 3 zwischen den Tischen gespielt wird, vollkommen unerklärlich. Der Zug ist nur mäßig voll, es gibt genug Platz auszuweichen.
Ich wurde noch nicht aufgefordert zu wechseln, oder meine Reservierung vorzuweisen. Also tue ich es auch nicht, bleibe ruhig sitzen und beobachte. Noch wurde niemand aufgefordert irgendetwas zu tun. Eigentlich wundern sich alle nur sehr laut und bestimmt, ganz nach deutscher Manier: Meins ist sicher nicht falsch, bei mir kann kein Fehler vorliegen. WARUM FUNKTIONIERT ES NICHT??
Besonders die beiden Frauen sind bestimmt richtig, denn auf ihren Zetteln steht es doch so, wie sie sagen—nur steht auf beiden Zetteln die gleiche Nummer und in meinem Handy auch noch mal die Einundachtzig. Aber ich möchte die Situation mit meiner Technik nicht unnötig verkomplizieren.
Unter meiner Maske muss ich schmunzeln. Es ist schließlich die Deutsche Bahn mit der wir hier unterwegs sind. Die Deutsch Bahn, die seit Jahren den meisten Lästerstoff der Deutschen ausmacht. Wir wissen doch genauso gut, dass die DB nicht pünktlich kommt, wie wir jahrelang wussten, dass der vermaledeite Flughafen niemals fertig wird.
Sobald die Bahn pünktlich kommt oder man tatsächlich vom BER fliegen kann, fallen wir aus allen Wolken—nicht wortwörtlich—aber dafür sind wir vorher für die vielen Pannen und Verspätungen vorbereitet. So sollte man zumindest meinen. Ich gehe jedenfalls immer mit einer Stunde plus-minus aus, wenn ich Bahn fahre, dass mach das Reisen deutlich entspannter.
Vielleicht sollte ich das Oma I und Oma II mal sagen, denn die fallen scheinbar aus allen Wolken, wenn bei der DB mal etwas nicht so läuft, wie geplant. Der Hinweis würde ihnen allerdings vermutlich wenig helfen und so wende ich mich an Herbert, der immer noch ruhig dabei steht und wie ich alles beobachtet. Ich könne mich auch eine Reihe nach hinten setzen, es sei ja genug Platz. Herbert lächelt erfreut, ein Lösungsvorschlag! „Das würden Sie tun? Oh das wäre ja wundervoll! Ja wirklich? Oma I (Ich hab ihren Namen vergessen, vermutlich Erna oder so…), diese nette Dame setzt sich eine Reihe nach hinten, dann können wir uns hier links an den Tisch setzen und diese beiden gehen an den anderen Tisch.“ Er freut sich wirklich sehr über die Lösung des Problems und reicht mir hilfsbereit mein Notizbuch und Federtäschchen nach hinten, damit ich nicht zwei mal gehen muss. Dann verstaut er noch glückselig das Gepäck seiner Enkelinnen und sogar auch das von Günter und Oma II.
Dann setzen sich alle und es wird ruhiger im Wagen 3 des IC 22009. Nur Oma I (Erna?) kommt noch nicht über das Ganze hinweg: „Wie kann das denn sein? Wie ist denn das möglich? Einundachtzig, zweiundachtzig, sechsundachtzig, siebenundachtzig…“ murmelt sie vor sich hin. Herrje sie wird vermutlich noch heute Abend im Bett darüber nachgrübeln.
Ach Erna, es ist doch nur die Deutsche Bahn!
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