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Gedanken beim Zahnarzt

Unsere Gedanken sind schon ein verrücktes Konzept. Sie geben uns eine wahnsinnige Kraft und Unabhängigkeit, denn wie sang Konstantin Wecker schon so schön: „(…) meine Gedanken zerreißen die Schranken und Mauern entzwei, die Gedanken sind frei.“

Manchmal ist es aber auch ein Glück, dass nur wir sie hören. Stellt euch vor, wir würden unseren Mitmenschen alles mitteilen, was wir grade denken. „So ein Trottel, sag mal, es ist doch nicht so schwer, die Maske über die Nase zu ziehen.“ Oder „Wow, hello Schönheit. Ich kenne dich überhaupt nicht aber, Wohow, hey!“

Wie furchtbar wäre es, wenn wir alle Ohrwürmer, die wir haben, laut vor uns hinsingen würden, weil wir nicht im Stillen darüber nachdenken können. Bitte stellt euch ganz bildlich, bzw. akustisch, vor, wie euer Nachbar in der U-Bahn vor sich hin philosophiert, wie der Refrain von Macarena geht:  „Walabdubelabedibudabed-ena, idahubdebildibeldubeldubdaber-ena, jaladubuelsangriawakar-ena, EEEEEEH MACARENA! AHAI!“ (Ohrwurm? Gerngeschehn :) )

Keiner kann uns vorschreiben, was wir zu denken haben, nicht mal wir selbst. Meine Gedanken werden auch gerne mal hysterisch, vor allem, wenn es um mich herum sehr ruhig ist. Das passierte zum Beispiel gerne in Mathe-Klausuren, wenn ich mir im Kopf meine Rechnungen noch mal vorlas: „3x PLUS 4 GETEILT MAL  7x HOCH 2 IST GLEICH 5x MAL 3x HOCH 2 PLUS 4“ schrie es dann, während ich gleichzeitig dachte: „Meine Güte Lea, chill doch mal bitte!“

Am interessantesten sind aber definitiv die Gedanken, die wir haben, wenn wir grade absolut nichts zu tun haben oder das Denken eigentlich nur ablenkend ist, zum Beispiel abends im Bett oder beim Yoga. Ich habe mal ein YouTube-Video gesehen, wo eine Frau Yoga gemacht hat und gleichzeitig ausgesprochen hat, was sie dabei dachte. Ja so ein Video existiert. Ja ich habe die gesamten 10 Minuten davon gesehen. Das ist allerdings schon ein Jahr her.

Lustigerweise erinnerte ich mich aber wieder an dieses Video, als ich gestern auf dem Zahnarztstuhl saß, mit einer Mundspülung im Mund und vor mich hin gurgelte, bis es endlich losging. Ich hatte ein Loch im Zahn, das gefüllt werden musste. Schon eine Woche vorher, war ich wegen der gleichen Misere da gewesen und hatte tapfer den Schmerz des Bohrers ohne Jammern ertragen. Das war eine einmalige Ganzkörperanspannung, die ich allerdings nicht unbedingt wiederholen wollte. Als mich die Zahnärztin dann jedoch ganz optimistisch fragte: „Und, heute wieder ohne Betäubung?“ musste ich natürlich die Heldin spielen. Wir versuchten es. Ohne Erfolg.

Meine äußerst uninteressanten Gedanken während der Prozedur habe ich mal in einem Monolog zusammengefasst. "Oh es geht schon los? Ach nee, nur Vaseline. Und ich muss natürlich den Mund aufreißen, als bekäme ich’s bezahlt. Peinlich. Oh der Bohrer! Ohoh der Bohrer! Hm, man spürt das ja kaum. Das tut ja noch gar nicht – oh okay doch. Au! AU! Happy Place! Gänseblümchen, Gänseblümchen! Always look on the bright side of life du du dudududududu … Okay nein das geht nicht ich brauche die Betäubung! Linke Hand heben. Linke Hand. Linke Hand! Ich mag keine Spritzen. Augen zu. Einfach zu. So lange ich sie nicht sehe… Die pikst ja gar nicht. Komisch… Au! Sie hilft auch nicht. Hey. Jawoll, gleich noch mehr drauf. Essen kann ich heute Abend vermutlich vergessen. Frau Doktor ist aber ganz schön ungeduldig heute. Aber die Schwester ist auch nicht so richtig bei der Sache. Vielleicht ist sie verliebt. Ähm, vier Gerätschaften in meinem Mund? Glauben Sie wirklich das passt?  Lippenelastizität üben ist ja auch wirklich sehr wichtig heutzutage, stimmt. Mhm, jup, da reißt Mundwinkel Nummer eins. Dabei lief das bisher in der kalten Jahreszeit so gut! Oh  wir sind schon bei der Chemieblaulichtlampe. Gleich ist's vorbei. Nur noch auf die Alufolie beißen und drauf herum kauen. Moment, hacken? Wie bitte? Ich soll drauf hacken. Okay alles klar, ich hacke."

Als ich nach einer halben Stunde endlich fertig war, sagte Frau Doktor diesen berühmten Arzt-Satz: „So das war‘s schon.“ Man selber hat eine Tortur des Schmerzes und der Qualen hinter sich, ist eigentlich die Heldin des Tages, weil man die Nadel in der Haut oder den Bohrer am Zahn oder das laute Rattern des MRTs für eine geschlagene halbe Stunde ertragen hat. Doch all das zählt nicht mehr, denn das war‘s ja schon. Trotzdem machte sich Erleichterung in mir breit. Kein Loch mehr zum stopfen, keine Schmerzen mehr ertragen. Ab jetzt werde ich auch nie wieder Zucker… und immer, immer Zahnseide… Da fügte Frau Doktor noch etwas hinzu: „Viel Glück, nächste Woche mit Ihren Weisheitszähnen.“ Mir entglitten alle Gesichtszüge. Die Weisheitszahn-OP! Oh nein, wieder Betäubung, wieder eine Spritze, wieder fuhrwerkende Leute in meinem Mund. NEIN!

Bei den Weisheitszähnen hatte ich ja auch wieder die Heldin spielen müssen. Als ich gefragt hatte, ob ich für die OP eine Narkose bekäme, hatte mich der Chirurg voller Vertrauen angeschaut und gesagt: „Die brauchen wir glaube ich nicht, oder?“ Ich hatte mich gleich ein bisschen mehr aufgerichtet, die Schultern gestrafft, tief Luft geholt und gesagt: „Nee, das schaff ich schon.“ Während es in meinem Kopf leise geflüstert hatte: „Doch! Doch! Doch!“

Nachdem mir auch die Schwester alles Gute für meine Weisheitszähne wünschte, verließ ich die Zahnarztpraxis und machte mich auf den Weg nach Hause. Etwas weiter die Straße runter kam eine Familie aus einem Hauseingang. Ein Kinderwagen und ein Kleinkind mit Mama und Papa. Das Kleinkind trug eine Laterne. Richtig, es war Sankt-Martins-Tag. Sie liefen vor mir und das Kind sang: „Ich trag mein Licht und fürcht‘ mich nicht, rabimmel, rabammel, rabumm.“ Nach etwa 50 Metern blieben sie stehen. Das Kind schaute zu seiner Mutter hoch und sagte: „Ich hab Hunger.“ Lächelnd überholte ich die Familie und weiß darum nicht, ob sie nach dem kurzen Ausflug gleich wieder umkehrten.


Auf dem ganzen Weg nach Hause sang mein Kopf in Dauerschleife: „Rabimmel, rabammel, rabumm!“ Wieder einmal ein Segen, dass meine Mitmenschen nicht mithören mussten.


 
 
 

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