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Die Heimwehsoße

Die Sache mit dem Heimweh hatte ich mir anders vorgestellt. Ich bin davon ausgegangen, dass es mich irgendwann einholen würde. Ein paar kleine Anflüge gab es schon hier und da. Erst war es die Tomatensoße mit Knoblauch, die so nach zu Hause roch und schmeckte. Ich nenne sie seitdem die Heimwehsoße. Dann waren es Gespräche mit Freunden, Geschichten aus der Heimat, die so vertraut waren, so klein und so fehlen. Am Anfang war es auch die Einsamkeit. Wenn etwas aufregendes, angsteinflößendes oder überwältigendes passierte und niemand da war, um einen in den Arm zu nehmen.


Versteht mich nicht falsch, ich hatte nie das Gefühl etwas zu verpassen, vergessen zu werden oder an Relevanz zu verlieren, wie egozentrisch das jetzt auch klingen mag. Immer wenn ich nach Hilfe, Gesprächen oder Ablenkung fragte, nahm sich jemand für mich Zeit, war es am Vormittag, spät Abends oder mitten in der Nacht. Dafür war und bin ich unglaublich dankbar.


Dieses Heimweh, was ich glaubte zu verspüren war aushaltbar. Ein Anflug hier, ein Tränchen dort, aber nach ein paar Momenten war es schon wieder weg. Es war die Sehnsucht nach vertrauten Menschen, die mich kennen und lieben wie ich bin. Aber daran konnte ich mich auch erinnern, indem ich mit den Menschen sprach.


Heute dagegen passierte etwas Neues. In der letzten Woche hatte ich Besuch von Franka. Wir verbrachten wunderschöne Tage, unternahmen viel und trödelten durch die Straßen. Ich zeigte ihr mein London und wir entdeckten gemeinsam neue Orte. Aber jeder Urlaub findet auch ein Ende. Als Franka am letzten Tag darüber sprach, was ihre Familie grade zu Hause treibt, fiel es mir plötzlich vor die Füße. Sie war nicht in derselben Situation wie ich. Am nächsten Tag würde sie nach Hause fahren und ihre Familie und Freunde wiedersehen und in ihrem eigenen Bett schlafen können. Es war wie ein Schlag in die Magengegend. Ich meinte nur zu ihr: „Stimmt ja du fährst ja morgen nach Hause. Autsch!“ Daraufhin nahm sie mich in den Arm und wir mussten beide ein bisschen über meine Reaktion lachen. Ich habe Franka heute Morgen zu nachtschlafender Zeit zum Bahnhof gebracht. Seitdem habe ich unglaubliche Sehnsucht nach Hause, meinem Zimmer, meinem blauen Hochbett und meinem Sessel.


Das, was ich eigentlich als Vorteil von London sehe, wurde plötzlich zum Problem. Wie einfach währe es für mich, nächstes Wochenende, wo ich vier Tage frei habe, nach Berlin zu fliegen. Täglich gehen mehrere Flüge von London nach Berlin, genauso wie mehrere Züge nach Brüssel Midi. Klar könnte ich das machen. Es spricht nichts dagegen, außer meinem ökologischen Fußabdruck. Aber mein Problem an der Sache ist: Ich fliege schon in sechs Wochen nach Berlin, genauso wie nochmal etwa sechs Wochen später über Weihnachten und Sylvester. Mein Auslandsjahr soll dafür da sein, das ich selbstständiger werde und ich will das auch. Ich bin unglaublich dankbar und glücklich, hier zu sein.


Es ist ein bisschen wie die Sache mit meiner Bewerbung fürs Schauspielstudium. Die Aufgabe ist riesig, unfassbar und erscheint unmöglich. Es macht Angst und am liebsten möchte man sofort wieder abbrechen, man schafft es doch eh nicht. Wenn man sich dann aber vor Augen führt, dass man diese Aufnahmeprüfung machen möchte, egal was dabei rauskommt, dass man doch Talent hat in einer gewissen Weise und dann nicht mehr das große Ganze betrachtet, sondern die Aufgabe Schritt für Schritt angeht, wird es plötzlich möglich und man lernt einen fünfminütigen Monolog innerhalb einer Woche. Das ist dann aber nicht so: „Ach ja ich will das ja!“ und zack, läuft’s. Nein, es ist ein verdammter Kampf, sich jeden Tag hinzusetzen und zu lernen, sich zu erinnern, dass das eine riesige Chance ist und man nicht den Button Bewerbung zurückziehen anklickt.


So ist es auch mit dem Auslandsjahr. Es gibt Momente, da vergesse ich, dass ich in einem anderen Land bin, ich habe Spaß, bin glücklich, auch Dinge alleine zu unternehmen und genieße jeden Augenblick. Aber dann gibt es auch Momente, wo die Heimat so sehr fehlt, die Freunde so weit weg sind, das Wetter graußlich ist, der Tag anstrengend war und man nichts mit sich anzufangen weiß. Wenn Netflix einfach keinen passenden Film hat, außer Notting Hill, den ich mir aber nicht ohne Mama und Papa anschauen möchte. Dann säße ich nämlich wirklich am nächsten Tag im Flieger! An solchen Tagen denkt man dann daran, abzubrechen, übers Wochenende nach Hause zu fliegen oder einen Flug nach Bogota zu buchen. Und dann muss man sich wieder daran erinnern, dass man doch gerne hier ist und eine Reise nach Hause das Heimweh nur schlimmer machen würde.


Wenn man Tipps gegen Heimweh recherchiert wird geraten, etwas zu unternehmen, aktiv zu werden, Kontakt zu suchen, aber bloß nicht nach Hause! Ich wiederspreche dem. Zwar verstehe ich das mit dem Kontakt nach Hause, finde aber, dass der Kontakt die Sehnsucht auch besänftigen kann. Das kommt aber vermutlich auch auf den Typ Mensch an. Aktiv zu werden hilft zwar tatsächlich, sagt sich aber auch recht einfach. Klar sollte man sich nicht in die Gefühle reinsteigern, stundenlang zu Hause im Bett liegen und sich in den Schlaf weinen, aber einfach aufzustehen ist nicht leicht! Vor allem, wenn man sich einsam fühlt. Wenn man sich nach vertrauten Menschen sehnt und dann alleine etwas unternehmen soll, ist sich dafür etwas auszudenken quasi unmöglich. Noch schöner wird es, wenn es draußen regnet, was einem in London doch recht häufig passiert.


Ein kleiner Tipp von mir mal allgemein: Es hilft sich an Erlebnisse zu erinnern, die man alleine genossen hat. Die Momente, wo das alleine sein gut war. Ich schreibe häufig meine Beobachtungen auf, auch die kleinen Dinge, denn wer weiß, vielleicht kann ich ja hier mal darüber schreiben. Und wenn ich dann wie grade eben in meinem Bett liege und zu nichts Lust habe, in meinem kleinen Notizbuch blättere und die folgenden zwei Stichpunkte unter der Überschrift: „Die kleinen Dinge im Leben“ finde:

· Auf dem Weg ins Café Highness finde ich ein glitzerndes 10p Stück aus 2016.

· Der Baristo, der mir meinen Kaffee (Latte) bringt, stellt ihn mir hin und fragt mich, ob es mir gut gehe und lächelt mich freundlich an.

dann geht es mir besser. Ich bin wieder etwas motivierter was zu machen, rauszugehen und werfe meinen Plan, einen Netflix-Tag zu machen, über den Haufen.


Macht damit was ihr wollt. Auch mit der ganzen Heimwehsoße, die ich euch hier aufgetischt habe. Mir geht es jetzt besser und das war es mir wert!

 
 
 

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